Titel
Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003


Herausgeber
Schulz, Günther; Denzel, Markus A.
Reihe
Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 26
Erschienen
St. Katharinen 2004: Scripta Mercaturae Verlag
Anzahl Seiten
540 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wencke Meteling, SFB 437 "Kriegserfahrungen", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Der Sammelband ist aus den „Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte“ hervorgegangen, die unter der Schirmherrschaft der Ranke-Gesellschaft und des Instituts für personengeschichtliche Forschung (Bensheim) veranstaltet werden. Mit dem deutschen Adel im 19. und 20. Jahrhundert hat er ein Thema zum Gegenstand, das seit einigen Jahren wissenschaftlich en vogue ist.1 Woher rührt dieses Interesse an einem notorischen Verlierer der Geschichte? Denn als einen solchen wird man den Adel trotz all seiner Bemühungen ums „Obenbleiben“ (Werner Sombart) doch wohl bezeichnen müssen. Vielleicht liegt hierin die besondere Faszination: Von der älteren sozialgeschichtlichen Forschung als „preußisches Junkertum“ gern verteufelt oder als Sozialformation nach 1945 totgesagt, erweist sich der Adel über die Schallgrenzen von 1918 und 1945 hinweg als erstaunlich lebendig. Insbesondere für neuere kultur- und erfahrungsgeschichtliche Ansätze stellt er einen spannenden Untersuchungsgegenstand dar.

„Der Adel erlebte [...] einen dramatischen Niedergang, an dessen Ende die bürgerliche Gesellschaft das Terrain beherrscht“, fassen die Herausgeber Günther Schulz und Markus A. Denzel die Langzeitentwicklung zusammen. Drei Leitfragen waren den Autoren vorgegeben: die Frage nach dem „Gruppenzusammenhalt“ des Adels unter sich wandelnden historischen Umständen, nach dem gesellschaftlichen „Obenbleiben“ sowie nach seiner „Wiedererfindung“. Sodann waren drei Themenfelder erbeten, auf denen die Gliederung des Bandes beruht: 1. Ästhetik, 2. Vermögen und Einkommen, 3. soziale Einbindung und gesellschaftliches Selbstverständnis. Die mit Abstand größte Resonanz fand die Frage nach der sozialen Einbindung und dem gesellschaftlichen Selbstverständnis des Adels. Die Hälfte der knapp 20 Beiträge ist ihr gewidmet. Tatsächlich sind es noch mehr, nur finden sie sich etwas zwanghaft den anderen beiden Kapiteln zugeordnet. Eine feinsinnigere, analytisch ausgerichtete Gliederung hätte zeigen können, dass die Aufsätze inhaltlich und methodisch wesentlich vielfältiger vernetzt sind, als es das starre Grobraster (höhere) Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft erahnen lässt.

Vorangestellt sind zwei übergreifende Beiträge über den deutschen und den österreichischen Adel im 20. Jahrhundert. In seinem pointierten Überblick über „Forschungsperspektiven eines zeithistorischen Feldes“ plädiert Eckart Conze dafür, Adelsgeschichte im 20. Jahrhundert in Deutschland als allgemeine Gesellschaftsgeschichte, „als Zeitgeschichte im diachronen Zugriff“ zu betreiben (S. 18f., 23). Lange war der Adel im Korsett der junkerfixierten, „sonderwegsbedingten borussischen Blickverengung der historischen Forschung“ gefangen und als Fortschrittsbremse stigmatisiert (S. 19). Seit einigen Jahren indes ist der Adel für die Elitengeschichte und die erneuerte Sozialgeschichte wieder interessant geworden und ist die europäische Dimension des Adels ins Bewusstsein getreten. Conze schlägt fünf Fragerichtungen vor, die darauf zielen, den Adel „auch als Sonde für die Untersuchung einer Gesellschaft, ihrer Funktionsbedingungen und ihres Wandels“ zu nutzen (S. 34): 1. Adelsgeschichte als Erfahrungsgeschichte. Der berechtigten Skepsis, ob man überhaupt von „einem“ deutschen Adel im 20. Jahrhundert sprechen kann, stellt er die These entgegen, dass gemeinsame Erfahrungen den Adel als Gruppe homogenisierten. 2. Adeligkeit. Hierunter sind die adelige Identität und Lebensführung sowie ein besonderer Wertehorizont mit den Pfeilern Familie und ländlicher Besitz zu verstehen. 3. Elitenbildung. Die groben Thesen einer „Feudalisierung des Bürgertums“ und einer „Verbürgerlichung des Adels“ im 19. Jahrhundert sind inzwischen abgelöst worden zugunsten der Analyse von Versuchen einer gemischten Elitenbildung, die auch für das 20. Jahrhundert trägt. 4. Adel als identitätsbildendes Referenzsystem und 5. Niedergang und Obenbleiben.

Ewald Frie zeichnet in seinem Beitrag über „Adelskultur in Brandenburg 1790-1830“ nach, wie sich „der universaldilettantische Adel des 18. Jahrhunderts zur Elite in einigen Funktionsbereichen der modernen Gesellschaft“ wandelte. „Aus dem durch Recht und Herkommen gesicherten Stand wurde eine durch Reichtum und Funktion intern differenzierte, durch neue Formen der Gemeinschaftlichkeit sich legitimierende Herrschaftsgruppe.“ (S. 91) Auf den Umbruch von einer ständischen zu einer funktional differenzierten Gesellschaft reagierte der Adel mit seiner erfolgreichen Neuerfindung als Land-, Offizier- und Beamtenadel. Theodor Fontane hatte diesen Adel in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ fälschlich in die Frühe Neuzeit zurück verlängert, und lange war ihm die Geschichtsforschung darin gefolgt.

Mit kritischem Blick auf die bisherige „systematische Indifferenz“ der Forschung gegenüber niederem und hohem Adel nimmt Silke Marburg die Konstruktion von Hochadeligkeit unter die Lupe. Sie untersucht das Leben der Familie Königs Johann von Sachsen und der Hochadelsgesellschaft in Dresden im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts. Überzeugend belegt sie die These, dass sich der Hochadel gerade deshalb erfolgreich wieder erfinden konnte, weil er eine spezifische Binnenkommunikation mit gegenseitigen Ehrerweisungen pflegte. Überregional und übernational bestens vernetzt, durch Endogamie feste Familienbande schmiedend, wussten die untersuchten Albertinischen Wettiner die Residenzstadt als Forum hochadeliger Vergesellschaftung geschickt zu nutzen. In dieser hochadeligen Handlungsorientierung lag ein Erfolgsrezept für die Zukunft: „Auch wenn das letzte Sonderrecht dahin war, blieb Distinktion möglich.“ (S. 318)

Nach dieser Devise verfuhren auch die 1806 mediatisierten Standesherren. Dass der Verlust ihrer realpolitischen Machtstellung noch lange nicht das Aus für sie bedeutete, belegen die Aufsätze von Siegfried Grillmeyer über die Fürsten von Thurn und Taxis im 19. Jahrhundert und von Karina Urbach über drei süddeutsche Standesherren von 1880 bis 1945. Nach dem „Gewaltakt“ der Mediatisierung versuchten die Fürsten von Thurn und Taxis, den unliebsamen Status als privilegierte „Untertanen“ abzustreifen und den Anschluss an den regierenden Hochadel wieder zu finden. Dies gelang ihnen weder auf politischem Parkett noch durch ihre Grunderwerbspolitik. Um so mehr setzten sie daran, ihre Herrschafts- und persönlichen Ehrenrechte als „Ebenbürtige“ zu verteidigen und ihre Zugehörigkeit zu einem „fürstlichen Hause“ herauszustreichen. Ihr Vermögen kam ihnen hierbei zugute. Wie die Thurn und Taxis ihre „Verbundenheit“ mit anderen Hochadeligen pflegten, legt Grillmeyer anhand der Notifikationsschreiben und der Ordensverleihungen dar. Urbach untersucht mit biografiegeschichtlichen Methoden, welches politische Handlungsbewusstsein und welche realen Handlungsmöglichkeiten süddeutsche Standesherren besaßen. In drei Einzelporträts zeichnet sie die unterschiedlichen Karrierewege eines Diplomaten, eines höfischen Günstlings und eines kirchlichen Verbandsfunktionärs bis in das „Dritte Reich“ nach und fragt nach gelungener und gescheiterter Selbstbehauptung. Die Nachkriegsentwicklung der Fürsten Ernst zu Hohenlohe-Langenburg und Max Egon zu Fürstenberg fasst sie in folgende Worte: „Bei allen Lippenbekenntnissen gegenüber der Hohenzollernmonarchie hofften sie nun, durch eine starke Führung noch einmal einen Einzug in die Vorzimmer der Macht zu erleben. Doch bei aller Anpassungsbereitschaft durften sie nur noch als nützliche Claqueure (durch) den Türspalt spähen.“ (S. 373)

Welche Welten zwischen der winzigen Schicht elitärer Hochadeliger und der Masse des Kleinadels lagen, illustriert ein Aufsatz Stephan Malinowskis. „Deutscher Adel nach 1918 – eine Elite?“, so der spitze Titel. Der gängigen Forschungspraxis, den Adel als Elite aufzufassen, stellt er die provozierende These entgegen, dass der soziale Niedergang bis hinein in fast jede adelige Familie gereicht habe.2 Von einer Elite oder von Obenbleiben könne für die Masse des Adels im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert keine Rede sein. Malinowskis und Christoph Frankes Kritik zielt auf Positionsanalysen zu adeligen Funktionseliten in Großlandwirtschaft, Militär und Staatsdienst. Sie verzerrten lange das Bild vom deutschen Adel. Methodisch trennen sich ihre Wege: Franke unternimmt eine regional vergleichende Positionsanalyse zum sächsischen und bayerischen Adel. Damit vollzieht er den dringenden Perspektivwechsel weg von den Funktionseliten hin auf die Ebene einzelner Familien, um den Wandel in Besitzverhältnissen, Ausbildung, Beruf und Heiratsverhalten zu ermitteln. Seine bisherigen Ergebnisse belegen, dass nur Teile des sächsischen und des bayerischen Adels als Funktionselite gelten können. Wo die Grenzen jeder Positionsanalyse liegen, zeigt der Einwand Malinowskis: „Immenser Einfluss und Zugriff auf Machthebel sind über Funktionen und Positionen nicht immer zu erfassen.“ (S. 507) Mit feinem Gespür lotet Malinowski die soziale Deklassierung im Kleinadel aus und analysiert den adeligen Kargheits- und Charisma-Kult, der sich auf bildungsbürgerliche Imaginationen stützen konnte. Welch absurde Spannung dabei zwischen mäßigen Mitteln und maßlosen Ansprüchen herrschte, verrät das adelige Führungsgebaren, blieb doch „das wortreiche Schwadronieren über die adelige Berufung zur ’Führung’ auch dort erhalten, wo es faktisch nur noch um die kaufmännische ’Führung’ adliger Tante-Emma-Läden ging“ (S. 535). Spätestens im Kaiserreich hatte es der Adel verpasst, sich den Herrschaftsfeldern der Moderne zu öffnen, so dass er „auf den radikalen Wechsel nach 1918 in fataler Weise unvorbereitet“ war (S. 510). Die Rede von einem geeinten „deutschen Adel“ sei nicht viel mehr als das ideologische Spiegelbild einer gegenteiligen Realität gewesen (S. 511). Ungewollt näherte sich der Kleinadel den Lebens- und Denkwelten des Kleinbürgertums an. Als „Repräsentationselite“, ja als „Charisma-Elite“ (S. 536f.) aber machte der deklassierte Kleinadel seinen zerstörerischen Einfluss geltend. Folglich sollte die Geschichte adeligen Einflusses zwischen 1918 und 1945 weniger „von oben“ als „von unten“ aus der Perspektive einer radikalisierten Verlierergruppe geschrieben werden (S. 537).

Malinowski rückt mit seinem Aufsatz die Parameter des Sammelbandes zurecht. Denn die Leitfrage der Herausgeber nach Gruppenzusammenhalt, Obenbleiben und Wiedererfindung des Adels impliziert ungewollt eine adelige Erfolgsgeschichte. Dies mag ein kulturgeschichtlicher Reflex auf die alte Niedergangsthese sein. Doch waren dem Adel bei all seinen Distinktionsbemühungen und Selbstbehauptungsversuchen immer nur Teilerfolge beschieden. Langfristig betrachtet, agierte der Adel aus der Defensive heraus. Wohl und Wehe der Adelsforschung liegen auch in diesem Sammelband nahe beieinander. Die Artikel unterscheiden sich sehr in ihrem Potenzial für künftige Adelsforschungen. Je nach Forschungsverständnis kann man sich auch mit Aufsätzen zufrieden geben, die auf bewährten Pfaden empirische Wissenslücken schließen. Eine Adelsgeschichte aber, die sich selbst genügt, die Adel aus sich heraus erklärt und deren Erkenntnisinteresse allein um Adel kreist, die also keine Gesellschaftsgeschichte im Conzeschen Sinne anstrebt, sollte als passee gelten. Wissenschaftliche Lorbeeren gebühren solchen Aufsätzen, die mit innovativen Fragestellungen, Methoden und Theorien neue Horizonte eröffnen.3 Einige wurden hier vorgestellt. Künftige Forschungen zum Adel in Deutschland nach 1918 werden sich mit den gegensätzlichen Thesen von Conze und Malinowski auseinander zu setzen haben: Wurde der Adel in Deutschland nach 1918 durch gemeinsame Verlusterfahrungen eher homogenisiert (Conze), oder splitterten im Gegenteil die Adelsgruppen weiter auseinander (Malinowski)? Dafür müssten die beiden Pole Homogenisierung und Zersplitterung in den Diskursen und der sozialen Praxis genauer untersucht werden. Außerdem wäre es lohnend, inneradelige sowie adelig-bürgerliche Handlungsdispositionen und -weisen gegeneinander abzuwägen.

Anmerkungen:
1 Vgl. in europäischer Perspektive: Conze, Eckart; Wienfort, Monika (Hgg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004.
2 So auch Schiller, René, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003; Malinowski, Stephan, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003.
3 Siehe die von Heinz Reif herausgegebene Reihe zum „Elitenwandel in der Moderne“.